Das ist ein Detailartikel aus meinem „Wie ich wurde, was ich bin: Mein Weg zum Lerncoach“ – Artikel Den findest du hier. Dieses ist meine Geschichte zu der Station: Sommer 1992: Meine Kündigung. Zum letzten Mal betrat ich meine Schule und stand als Lehrerin vor meiner Klasse. War das schon ein Grundstein für meine Chance als Lerncoach?
Ich darf nur noch wenige Wochen Lehrerin sein
Ich kann mich noch sehr genau an den Tag im Mai 1992 erinnern. Es war ein warm und sonnig. Meine Klasse und ich waren in der letzten Stunde auf dem Schulhof und haben gemeinsam gelesen. Schon lange war bekannt, dass im gesamten Land viel zu viele Lehrer an den Schulen sind. Die Pflichtstundenanzahl für uns Lehrer erhöhte sich um eine erhebliche Anzahl, dadurch gab es massiven Personalüberhang.
Ich fühlte mich in dieser Zeit hin- und hergerissen. Einerseits war für mich klar, es ist mein Traumberuf und ich gebe alles dafür, meine Kinder weiter auf ihrem Schulweg begleiten zu dürfen. Ich bleibe im Schuldienst! Andererseits wurde gemunkelt, dass gerade hier in Rostock alle Kollegen, die jung, alleinstehend, keine Kinder haben ganz oben auf der Kündigungsliste stehen. Alle Kollegen saßen im Lehrerzimmer. Nacheinander wurden wir in das Schulleiterbüro gerufen. Auf meinem Gang dorthin fühlte ich mich so unwirklich. Das bin ich nicht, es ist doch nur ein schlechter Traum. Ich wache gleich auf und der ganze Spuk ist vorbei. Doch nein, es war Realität. Ich erhielt, neben mehreren weiteren Kollegen, meine Vollkündigung zum nächsten Schuljahr.
Lähmung oder Aktionismus
Nun war es amtlich, am Ende des Schuljahres musste ich gehen. Ich fühlte mich leer. Kein Gefühl von Traurigkeit oder Wut, einfach nichts. Eine Weile saßen wir Kollegen noch zusammen. Neben Vollkündigungen gab es zahlreiche Teilkündigungen. Kollegen mit Kindern durften noch einige Stunden arbeiten, doch das traf auf mich nicht zu. Schnell fasste ich den Entschluss, mich bei der Gewerkschaft zu erkundigen. Noch am gleichen Tag fuhr ich in deren Geschäftsstelle. Ich werde Kündigungsschutzklage einreichen.
So vieles war möglich
Ich hatte Schüler im ersten Schuljahr, unterrichtete in einer historischen Rostocker Schule. Mittlerweile befand ich mich im dritten Dienstjahr. Stolz war ich, meinen Kindern lesen, schreiben und rechnen zu lehren. Inzwischen konnten alle Schüler lesen. Wow, wie großartig! Ich hatte zum ersten Mal in meinem Lehrerdasein die Chance von Null an eine Klasse aufzubauen.
Anfang der 90ger Jahre gab es viel Freiraum in der Unterrichtsgestaltung. Tagespläne, Wochenpläne, Projektunterricht waren neu. Ich konnte mich austoben, konnte fantasievoll in der Beschaffung von Kopien (einen Kopierer gab es damals in den Schulen noch nicht) und der Organisation von Unterrichtsmaterialien sein. Wochen im Voraus habe ich Unterricht geplant, Arbeitsblätter zusammengestellt und die Kopiervorlagen einem Bremer Busfahrer mitgegeben, der ab und zu in Rostock war, diese in der Bremer Firma kopierte und wieder mitbrachte. Zahlreiche Firmen habe ich angeschrieben und um Sponsoring gebeten. Bastelmaterialien, Lernspiele für die Freiarbeit, Trommeln für die Musikstunden und vieles mehr bereicherten unseren Schulalltag. Ich genoss diese Freiheit und die Vielfalt. Damit sollte nun Schluss sein?
Mehr als nur eine Schulklasse
Vollkommen unbedarft und unvoreingenommen begrüßte ich am ersten Tag meine Kinder zum ersten Mal in der Schule. Noch heute weiß ich die meisten Namen meiner damaligen Schüler. Ich erinnere mich, dass ich damals die erste Schülerin aus einem fremden Land aufnahm. Muna hatte lange dunkle Haare und große schwarze Kulleraugen. Sie kam aus dem Sudan. Heute weiß ich, dass sie wieder zurück in ihr Heimatland gegangen ist.
Die Schüler waren so neugierig und wissbegierig, was nicht heißt, dass alle immer hurra zu jeder Aufgabe riefen. Nein, das nicht. Die Kinder konnten ihre Ideen in den Unterricht einbringen. Wir haben immer Möglichkeiten der Umsetzung gefunden. So gestaltete die Klasse eine Zirkusvorstellung ganz allein für die Eltern. Das ostdeutsche Sandmännchen wollten wir retten und schrieben Briefe für deren Erhalt. Ein Fernsehteam der Sendung Dingsda war in unserer Klasse und meine Kinder durften Begriffe erklären. Sogar eine Klassenfahrt haben wir im ersten Schuljahr durchgeführt. Das war nur mit einer genialen Elternunterstützung möglich. Viele Jahre danach pflegte ich noch freundschaftlichen Kontakt zu einigen Muttis.
Nun musste ich den Eltern und meinen Kindern mitteilen, dass ich nach den Ferien nicht mehr zurückkomme. Das war ein schwerer Schritt. Ich war mir nicht bewusst, was für eine Protestwelle dieses auslöste. Eltern saßen zusammen, schrieben Protestbriefe ans Schulamt, an den Senat und sogar an das Bildungsministerium. Mittlerweile war ich überall bekannt und erhielt von allen Seiten viel Solidarität. Besonders gerührt war ich, als mir die Kinder Briefe mit ihren Wünschen überreichten. Sätze wie „Ich möchte, dass du hierbleibst.“, „Unsere Frau Schwerdtfeger ist sehr lieb, wenn wir Mathe oder Deutsch haben, ist sie sehr lieb.“, „Ich will, dass Frau Schwerdtfeger bis zum letzten Schuljahr bleibt.“ überwältigten mich.
Umschulung – so viele Möglichkeiten
In den nächsten Wochen und Monaten überrannten uns die privaten Bildungsträger. Es gab zahlreiche Bildungsmessen und Großveranstaltungen. Umschulungen zur Assistentin der Geschäftsführung, Steuerfachangestellte, Bürofachfrau u.ä. waren für uns Lehrer im Angebot. Die Massenveranstaltungen extra für Lehrer mied ich. Ich wollte keine Umschulung, ich bin doch Lehrerin. Irgendwann zog es mich dann doch mal zu einer Bildungsmesse. Beinahe hätte ich mich überreden lassen. Mir wurde die Assistentin der Geschäftsführung so schmackhaft gemacht und in den höchsten Tönen gelobt. Ich muss ja sagen, verkaufsaktiv waren die Damen und Herren damals ja schon. Auf jeden Fall habe ich mich besonnen und schnell wieder abgesagt. Zum Glück habe ich nicht Hals über Kopf einen Ausbildungsvertrag unterschrieben.
Und plötzlich war ich doch beim Bildungsträger
Das neue Schuljahr begann und ich war zu Hause. Keine Schüler, keine Kollegen, keine Schulklingel, keine Unterrichtsvorbereitungen. Weitere Nachfragen im Schulamt führten zu nichts. Eltern sprachen mich an und engagierten mich für Nachhilfe. Immerhin hatte das etwas mit Lernen und Lehren zu tun. Durch Veröffentlichungen in den Zeitungen, wurden Nachhilfeinstitute auf mich aufmerksam und wollten mit mir zusammenarbeiten. Das war die Geburtsstunde für mein heutiges Lerncoaching. Das konnte nicht alles sein. Ich brauchte mehr.
Eine befreundete Mutti einer ehemaligen Schülerin arbeitete beim Mecklenburgischen Bildungszentrum, einem privaten Bildungsträger. Dort erhielt ich die Möglichkeit als Honorarkraft tätig zu werden. Ich unterrichtete Umschüler in Deutsch und Maschineschreiben. Außerdem gab ich Tageskurse in kreativer Gestaltung für Erzieher. Die Erzieher, die ihre Ausbildung zu DDR-Zeiten beendeten, waren alle verpflichtet eine zusätzliche Qualifizierung für ihre staatliche Anerkennung neben ihrer Arbeit zu absolvieren.
Nun war ich doch beim Bildungsträger gelandet. Um ein Haar hätte ich auf der Seite der Umschüler gesessen. Ich bin froh, in der vermeintlich ausweglosen Lage, nicht zu dieser Notlösung gegriffen zu haben.
Der Schulrat ruft an
Es war der erste Schultag im Januar 1993. Ich war zu Hause. Mein Telefon klingelte. Es meldete sich der Schulrat. Was war ich aufgeregt. Ich bin in Erinnerung geblieben. Ich höre noch heute seine Worte. „In ihrer ehemaligen Schule fehlt eine Kollegin. Ich suche eine Krankheitsvertretung. Möchten Sie vertreten? Ich kann nicht sagen, wie lange es sein wird. Es kann sein, dass die Kollegin länger fehlt. Es kann aber auch sein, dass die Kollegin ganz schnell wieder im Dienst ist.“ Egal, das spielte für mich keine Rolle. Ich sagte zu und durfte bereits den nächsten Tag in die Schule. Ich war die allererste Vertretungslehrerin in der gesamten Stadt Rostock.
Damit begann für mich jedoch auch eine Odyssee zwischen Arbeitsamt und Schulamt. Nach nur knapp zwei Wochen war die Kollegin wieder in der Schule und ich musste mich wieder arbeitssuchend melden. Fortan erhielt ich immer wieder kurzfristig befristete Angebote. Kein einziger Ferientag wurde bezahlt. Ich lernte zahlreiche Schulen kennen und durfte ganz viele Erfahrungen in den unterschiedlichsten Kollegien sammeln. Doch das tollste war: Ich durfte unterrichten! Später erhielt ich dann auch Verträge über ein Schuljahr, jedoch ohne Sommerferien. Und irgendwie hatte ich die Hoffnung, dass sich daraus irgendwann einmal wieder eine Festanstellung ergibt.
Aus der Traum
Doch dann kam im Sommer 1995 das Aus. Das Bildungsministerium hat keine befristeten Lehrer mehr eingestellt. Nun hieß es endgültig Abschied zu nehmen von meinem Traum. Ich wendete mich der Versicherung zu, absolvierte dort die Ausbildung zur Versicherungsfachfrau und ging zunächst in den Verkauf. In dieser Zeit war ich selbständige Handelsvertreterin. Das war ein Abenteuer für mich, da alles für mich neu war. Schon bald ergab sich die Chance aufzusteigen. Ich bin zurück ins Angestelltenverhältnis und wurde Führungskraft. Fortan schulte und beriet ich Mitarbeiter. Und schon wieder war dieses „Lehrer“ und „Berater“-Sein. Es holte mich immer wieder ein.
Eine weitere Annäherung
Nach der Geburt meiner Tochter und einer wunderbaren intensiven Zeit zu Hause mit ihr zog es mich wieder nach außen. Ich wollte noch mehr, als nur zu Hause sein. Also arbeitete ich stundenweise beim Förderkreis und rekrutierte dort Teilnehmer für Bildungskurse (schon wieder Bildung), eröffnete Kurse und war selbst Kursleiterin. Zwischendurch arbeitete ich sogar kurzzeitig für Mercedes. Ich rief Kunden an und fragte nach Ihrer Zufriedenheit mit dem Service.
Immer näher rückte der Beginn meines vollen Einstiegs in die Arbeitswelt nach der Elternzeit. Ich war hin- und hergerissen. Einerseits musste ich Geld verdienen. Ich hatte nicht mehr nur die Verantwortung für mich, sondern auch für mein Kind. Gehe ich zurück in eine Tätigkeit, die mir keinen Spaß bereitet, ich aber gut verdiene? Verstand und Herz stritten sich. Ich schrieb zahlreiche Bewerbungen. Zur damaligen Zeit gab es kaum Stellenangebote für mich. Ein Bildungsträger suchte eine „Bildungsmanagerin“. Das machte mich neugierig. Yeah, ich bekam die Stelle. Als Bildungsmensch musste ich einfach in diesem Bereich arbeiten.
Ich arbeitete fortan mit dem Jobcenter zusammen, erstellte Konzepte für Umschulungen und unterrichtete wieder Erwachsene. Sehr genau erinnere ich mich noch, wie stolz ich war als unser Bildungsträger die Genehmigung für die Umschulung zum Friseur erhielt. Ich habe es geschafft, ein neuer Ausbildungszweig im Unternehmen war geboren.
Nach einem Jahr war es endlich so weit. Meine unzähligen Bewerbungen hatten Erfolg und ich durfte in einer ca. 60 km entfernten Kleinstadt an einer Privatschule wieder als Grundschullehrerin arbeiten. Wow, ich war überglücklich. Sogar eine erste Klasse durfte ich einschulen und übernehmen. Ein Neueinstieg in meinen Traumberuf – ich war soooo glücklich. Ich war nicht nur Lehrerin, sondern hatte auch immer öfter die Chance als Lerncoach zu wirken.
Heute habe ich meine Traumstelle
Es gab weitere Irrungen und Wirrungen. Weitere Stationen in meinem Leben findest du hier. Ich durfte viele Erfahrungen sammeln, die ich nicht missen möchte. Heute weiß ich: „An jedem Ereignis gibt es etwas Gutes.“
Ich half Kindern beim Lernen, lernte viele individuelle Schicksale kennen und blieb auf der Suche. Das bin ich immer noch. Ich kann nicht stillstehen. Ich suche Wege. Mir ist wichtig, mit den Kindern ihren Weg zu finden. Dazu bin ich Schulleiterin, Lehrerin und Lerncoach. Rückblickend war es meine Chance für den Lerncoach.
Interessanter Beitrag zu deiner Kündigung. Meine Tochter versucht, sich zu einer Steuerfachangestellten umschulen zu lassen. Interessant, wie Sie hier ihren Werdegang beschreiben und dass Sie so viele Umschulungen machen konnten.
Vielen Dank. Ich glaube daran, dass mich meine Vision angetrieben hat weiter zu machen. Ich wünsche Ihrer Tochter viel Erfolg.