Als Kind waren für mich Zensuren selbstverständlich. Sie gehörten wie Bücher, Hefte und Lehrer zur Schule. Ich bin mit dem Zensurensystem von 1 bis 5 groß geworden. In den ersten Jahren meines Dienstes kam dann die Note 6 hinzu. Als junge Lehrerin zensierte ich viel. Ich wollte nicht nur einen Moment abbilden, sondern die Leistungen möglichst umfangreich spiegeln. Im Laufe der Jahre entwickelte sich bei mir ein Umdenken. Zensuren sind überflüssig!
Zensuren als Benotung von Leistung
In den meisten Schulen werden in jedem Unterrichtsfach basierend auf Test’s, Klassenarbeiten, mündlichen Leistungen usw. Noten vergeben. Die Inhalte der Leistungsüberprüfungen richten sich nach dem Unterrichtsstoff, den der Lehrer im Unterricht vermittelt. Grundlage dafür bilden die Lehrpläne der einzelnen Bundesländer, die schulintern konkretisiert werden und von Schule zu Schule variieren können. Mit Hilfe der Ziffernnoten soll der Stand des erreichten Lernziels abgebildet werden. Doch worauf bezieht sich dieses Lernziel? Sicher – Grundlage sind die vorgegebenen Lehrpläne, jedoch das individuelle Lernziel bestimmt der Lehrer in Bezug auf den Leistungsstand der Klasse. So können die Lernziele für eine Klassenarbeit zu einem Thema durchaus unterschiedlich ausfallen. Hinzukommt, dass die Schwerpunkte unterschiedlich gesetzt werden können. So legt ein Lehrer vielleicht mehr Wert auf das richtige Ergebnis, ein anderer mehr auf den Lösungsweg. Dementsprechend unterschiedlich erfolgt die Punkteverteilung in den Arbeiten, welches sich wiederum auf die Zensuren auswirkt.
Für die Beurteilung von Leistungen werden folgende Benotungen verwendet:
- 1 – sehr gut – Die Leistungen entsprechen den Anforderungen in besonderem Maß.
- 2 – gut – Die Leistungen entsprechen voll den Anforderungen.
- 3 – befriedigend – Die Leistungen entsprechen im Allgemeinen den Anforderungen.
- 4 – ausreichend – Die Leistungen weisen zwar Mängel auf, entsprechen aber im Ganzen noch den Anforderungen.
- 5 – mangelhaft – Die Leistungen entsprechen nicht den Anforderungen, lassen jedoch erkennen, dass die notwendigen Grundkenntnisse vorhanden sind und die Mängel in absehbarer Zeit behoben werden könnten.
- 6 – ungenügend – Die Leistungen entsprechen nicht den Anforderungen, und selbst die Grundkenntnisse sind so lückenhaft, dass die Mängel in absehbarer Zeit nicht behoben werden können.
Lernfortschritt mit Noten – erkennbar?
In meiner allerersten Klasse hatte ich einen Schüler, der Schwierigkeiten in der Rechtschreibung hatte. Vor 35 Jahren wusste ich noch nichts über Lese-Rechtschreibstörungen und Legasthenie. Aus heutiger Sicht würde ich ganz anders schauen und Methoden wählen, die für Kinder mit Lernstörungen geeigneter sind. Martin übte fleißig zu Hause die Übungswörter. Die Mutti nutzte jede Möglichkeit ihr Kind zu unterstützen. Wir standen in einem regelmäßigen Austausch. In Diktaten zeigten sich viele Fehler. Es waren deutlich mehr Wörter falsch als richtig geschrieben. Die Fehleranzahl war enorm hoch.
Martin gab nicht auf. Er übte die Fehler und gerade in geübten Diktaten stieg die Anzahl der richtig geschriebenen Wörter. Die Zensur jedoch veränderte sich nicht. Es war vorher eine mangelhafte Leistung und nachher auch. Martin hörte und sah zwar seine Steigerung der richtig geschriebenen Wörter, aber nahm er diese auch wirklich als Erfolg wahr? Letztendlich stand die Note unter dem Diktat. Es war und blieb eine sechs.. Wie muss sich Martin gefühlt haben?
Aus meiner Sicht ist Martin durch diese Note so blockiert, dass er seinen enormen Leistungsfortschritt gar nicht wirklich wahrnehmen konnte. So sehr war er und sein Umfeld durch das Denken in Form der Zensuren beeinflusst.
Reformpädagogische Schule – reformpädagogisches Denken?
2001 führte mich mein Weg an eine Grundschule in Freier Trägerschaft, in deren Konzept verankert war, dass es keine Zensuren geben wird. Sofort musste ich an Martin denken. Wieviel mehr wäre ich ihm doch hier gerecht geworden!!! Zu der damaligen Zeit bedarf es viel Gesprächsbedarf mit den Eltern. Immer wieder stand das Thema „Zensuren“ auf der Tagesordnung. Ich kann mich noch sehr genau an die Fragen erinnern: Woher sollen wir wissen, wo unser Kind steht? Wie können wir unser Kind mit den anderen Kindern vergleichen, die an staatlichen Schulen lernen? Kommen die Schüler später mit den Zensuren klar? Wie kann eine Empfehlung für die weiterführende Schule ausgesprochen werden? Lernt mein Kind genug, wenn es keine Zensuren gibt? Wie werden Leistungskontrollen bewertet? Genau in den Antworten dieser Fragen liegt die Begründung für Zensuenfreiheit.
Meine Erfahrungen ohne Zensuren
Ich schulte Kinder in die 1.Klasse ein, die in den ersten drei Jahren statt Zensuren, detaillierte Wortmeldungen zu ihrem Leistungsstand erhielten. In den ersten Wochen stellten mir die Schüler häufiger die Frage: Welche Zensur wäre das? Diese Frage beantwortete ich so nicht, stattdessen richtete ich den Fokus auf das was das Kind konnte. Es standen immer die Stärken im Vordergrund. Die Entwicklung wurde sichtbar gemacht. Gemeinsam sprachen wir über den nächsten Schritt und legten das neue erreichbare Lernziel fest. Dieses geschah immer zusammen mit dem Kind. Ich als Lehrerin gab den Rahmen und das große Ziel, orientierte sich am Lehrplan.
Die Ziele wurden bedeutsam für das Kind, denn sie konnten mitbestimmen. Sicher, das war aufwendiger als Zensuren unter Test’s zu schreiben und bedarf viel Zeit und viele Gespräche. Doch dieses zahlte sich aus. Die Frage nach den Zensuren wurde immer weniger gestellt. In Auswertungsrunden, Morgen- und Abschlusskreisen sowie individuellen Gesprächen wurden Ziele definiert und reflektiert. Nach wenigen Wochen stellte ich fest, dass die Schüler sehr genau wussten was sie können und wo ihr individueller Lernschwerpunkt liegt. Dieses bestärkt meine Überzeugung: Zensuren sind überflüssig.
Mein Schlüsselerlebnis
Es war ein ganz normaler Schultag. Meine Klasse arbeitete am Wochenplan. Philipp kam zu mir und erzählte mir von seinem Wochenendbesuch bei Freunden. Die Kinder sprachen offensichtlich auch über die Schule und über ihre Leistungen. Philipp war ganz verwundert, er konnte gar nicht verstehen, dass sein Freund nicht wusste, was er in Mathematik alles kann. Er konnte nur sagen, dass er eine „2“ auf dem Zeugnis hat. Damit konnte Philipp nicht viel anfangen. Er muss doch wissen, was er kann und was er als nächstes lernen muss.
Wie genial, Philipp hat es verstanden. Er war übrigens ein sehr ehrgeiziger Schüler, der sich nicht ausruhte und ohne Zensuren motiviert lernte, obwohl seine Eltern diesem Konzept anfangs sehr skeptisch gegenüber standen.
Dieses Erlebnis zeigte mir, dass es für meine Schüler „normal“ war, nicht in Zensurenkategorien zu denken. Für sie war es selbstverständlich zu benennen was sie bereits gelernt haben, was sie können und was sie als nächstes lernen wollen. Ich fühlte mich auf meinem Weg bestätigt.
Ohne Zensuren braucht es keine Leistungskontrollen?
Leistungskontrollen und Klassenarbeiten sind meiner Meinung nach ein gesondertes Thema. Ich möchte mich hier nur auf die Zensierung dieser konzentrieren. Häufiger hörte ich das Argument, die Zensuren sind doch wichtig um zu wissen, wo der Schüler steht.
Meine Erfahrungen zeigen, dass von Schule zu Schule die Punkteverteilung sehr unterschiedlich erfolgen kann. In Diktaten habe ich erlebt, dass fehlende i-Punkte verschieden bewertet wurden. An einigen Schulen wurde dieser als ganzer Fehler, an anderen als halber Fehler und wiederum an anderen Schulen wurden wiederholte i-Punkte jedes Mal als Fehler gezählt oder als Wiederholungsfehler gerechnet. Das macht einen enormen Unterschied. Stelle dir vor, ein Kind vergisst im Diktat zehnmal den i-Punkt. Das könnten im schlimmsten Fall zehn Fehler sein und im besten Fall nur ein halber Fehler. Das bedeutet auch unter dem Diktat könnte eine „6“ oder auch eine „1“ stehen. Ich gebe zu, dieses ist schon ein extremes Beispiel, zeigt aber, wie unterschiedlich die Zensuren gegeben werden können. Zensuren bieten für mich demzufolge auch keine Vergleichbarkeit. Leistungskontrollen habe ich trotzdem geschrieben und genau analysiert und ausgewertet. Dementsprechend gab es eine ausführliche Rückmeldung, die mehr aussagte als eine bloße Ziffernnote.
Ohne Zensuren – fehlender Ansporn beim Lernen?
Das Lernen beschränkte sich nicht nur auf die Vorbereitung auf Test’s- Aus meiner früheren Tätigkeit hatte ich den Satz: „Gibt es dafür eine Zensur?“ noch im Hinterkopf. Manchmal erweckte sie den Eindruck, dass die Vorbereitung und Anstrengungsbereitschaft von der Antwort auf diese Frage abhängig war. Dieses war plötzlich gar kein Thema mehr. Für die Schüler spielte es gar keine Rolle. Eine Bewertung und wertschätzende Rückmeldung gab es ständig. Kein Schüler dachte jemals darüber nach, ob es sich wegen der Zensur lohnt sich anzustrengen.
Oft wird die Wertigkeit und Bedeutung der Zensuren durch die Gesellschaft enorm hervorgehoben, so dass die Persönlichkeit kaum mehr gesehen wird, sondern nur noch eine Reduktion auf die Ziffernnoten erfolgt. Ich bin stolz darauf, meinen Schülern ein Stück weit die Augen geöffnet zu haben sich selbst nicht nur auf die Zensuren zu beschränken. Sie nahmen ihren Lernfortschritt genau wahr, freuten sich darüber und wussten genau, was sie als nächstes lernen wollen und auch was sie noch üben müssen.
Zeugnisse ohne Zensuren?
Ja, das geht. Und es sind auch richtige Zeugnisse. Durch die ständigen schriftlichen und mündlichen Rückmeldungen an die Kinder und die gemeinsamen Gespräche waren die Schüler und Eltern mit Formulierungen, die den Leistungsstand beschreiben, vertraut. In einem Kompetenzzeugnis werden Kompetenzen der einzelnen Fächer beschrieben. So erhalten die Schüler im Fach Mathematik zum Beispiel Rückmeldungen darüber wie gut sie das kleine 1×1 können, Textaufgaben verstehen, geometrische Formen erkennen. Dieses Zeugnis basierte auf genaue Dokumentationen aus Beobachtungen, Lernstandsanalysen, Test’s, mündlichen Leistungen, Wochenplanaufgaben usw. Es wurden nicht nur von mindestens 1 bis 3 Zensuren der Durchschnitt gebildet. Was ist aussagekräftiger – die Dokumentation über ein Schuljahr oder 1 bis 3 Momentaufnahmen in Form einer Note?
Mein Fazit zur Benotung
Ich bin der Überzeugung, dass die Beurteilung erbrachter Leistungen in einem sechsstufigen System unsere Schüler beim Lernen und unsere Lehrer bei der Wissensvermittlung einschrenkt. Zensuren sind überholt, da der Focus nur auf die Ziffernnote beschränkt ist. Sie sagt nichts über die Fähigkeiten oder die Schwierigkeiten in einem Fach aus. Oft arbeiten Lehrer und Schüler auf die nächste Kontrolle hin. Der Druck die Schüler zu beurteilen, um ausreichend Zensuren zu erhalten wächst auch für die Lehrer immer mehr. Für fächerübergreifendes komplexes Denken bleibt immer weniger Zeit.
Eine Schule ohne Zensuren ist befreiend, lässt Raum für die Entfaltung der Persönlichkeiten unserer Kinder. Kinder lernen ohne Zensuren freier und selbstbestimmter.